Öffentlicher Raum 2.0: Wie Seattle den Seitenstreifen zur Flex-Zone macht

Ein Best Practice Beispiel für den Umgang mit dem Seitenstreifen

Alle Fahrzeuge, die sich im öffentlichen Raum bewegen, egal ob mit Verbrennungsmotor oder elektrisch betrieben, in Privatbesitz oder geshared, autonom oder konventionell, ob öffentlicher Bus, E-Roller, Fahrrad oder Lieferfahrzeug, haben eine Gemeinsamkeit:

Sie alle müssen kurz- oder langfristig den Randstreifen oder die „Bordsteinkante“ nutzen. Die Gründe sind vielfältig: Parken, Pakete ausladen, jemanden absetzen oder aufnehmen, laden von E-Fahrzeugen, liefern, etc. . Für die meisten dieser Nutzungen sind aber keine Räume vorhanden – denn keine davon hatte in der Vergangenheit eine so große Bedeutung wie das Parken.

Um unsere privaten Fahrzeuge für rund 23 Stunden täglich aufzubewahren, wurden und werden in unseren Städten nicht nur enorm viele privaten Flächen verbaut, sondern auch ein wesentlicher Bestandteil des öffentlichen Raums vorgehalten.

Doch nun treten neue Formen der Mobilität in neuer Intensität auf – und da diese aufgrund mangelnder Infrastruktur keinen Raum zum Anhalten finden, verlagert sich dies in die zweite Reihe oder auf Fahrrad- und Fußwege. Damit werden sie entweder zum Ärgernis oder schlimmer noch zur Sicherheitsbedrohung. Der DHL- oder Amazon-Lieferwagen liefert in Innenstädten Pakete aus, während er einen Fahrstreifen blockiert. Private Fahrräder oder Leih-E-Scooter blockieren Gehwege und öffentliche Plätze, und Taxen oder Fahrdienstleister lassen Ihre Fahrgäste mal eben schnell auf dem Fahrradweg aussteigen. All das kann nicht die optimale Lösung sein. Längst werden Stimmen laut, die die unverhältnismäßige Bevorteilung von Stellflächen im öffentlichen Raum für private Fahrzeuge in Frage stellen, wie zum Beispiel in dieser Studie der Agora Verkehrswende. Und so gerät der Seitenstreifen – oder auf englisch „curb“ – in einen neuen Fokus.

Wie können wir Raum für vielfältige Nutzungen des Randstreifens schaffen?

Seattle hat dafür einen interessanten Ansatz gefunden: Die Flex Zone.

Bei der Gestaltung der Flex Zone wurden zunächst alle möglichen Nutzungen des Straßenraums in sechs Kategorien unterteilt: die (multimodale) Fortbewegung, der Zugang zu Läden, der Zugang für Menschen, die lebhafte Gestaltung/ Aktivierung des öffentlichen Raums, die Begrünung und das „Aufbewahren“ von Fahrzeugen. Je nach Kategorie des Stadtraums wurden diese im Anschluss unterschiedlich priorisiert. So hat zum Beispiel ein lebhafter Straßenraum in Wohngebieten eine geringere Bedeutung als in innenstädtischen Gebieten.

Im Anschluss wird nun den unterschiedlichen Nutzungen ein Platz im öffentlichen Raum zugewiesen. Innerhalb des entwickelten Rahmens, beginnt man also zunächst mit Fahrspuren und Haltestellen für den öffentlichen Verkehr und Radwegen. Im Anschluss finden Bike-Share Stationen, Fahrradparkplätze, Passagier-Einsteige Zonen und Ladezonen ihren Platz entlang der „Curb“. Der verbleibende Raum kann dann für Parklets oder variable Kurzzeit-Parkzonen genutzt werden.

Hier sehen wir einige Beispiele aus Seattle, wie die Flex-Zones in unterschiedlichen Stadtbereichen eingesetzt werden:

Zone: Urban Village Neighborhood, ©City of Seattle


Zone: Urban Village Main, ©City of Seattle

Gerade in innerstädtischen Bereichen ruft eine derartige Zonierung natürlich nicht nur Begeisterung hervor. Besonders Ladenbesitzer wehren sich häufig sich gegen die vermeintliche Reduzierung der Attraktivität einer Straße mit Händen und Füßen. Jedoch belegen in den USA durchgeführte Umfragen solche Ängste nicht  – wenn öffentlicher Raum attraktiv gestaltet ist und die Straße durch den ÖPNV nach wie vor gut erreichbar ist.

Die Vorteile jedenfalls liegen auf der Hand:

  • Durch die Entpriorisierung von Autos im fließenden und stehenden Verkehr entsteht zusätzlicher Raum
  • In diesem Raum können dann andere Nutzungen (Radwege, Ladezonen, Zustiegszonen, temporäre Nutzungen wie Parklets, Foodtrucks, etc.) untergebracht werden, die das Straßennetz entlasten
  • So bekommt der Randstreifen einen Wert, da er den Stadtraum attraktiver machen.

Sind diese Erkenntnisse auch auf den öffentlichen Raum in deutschen Städten anwendbar?

Die grundsätzliche Herangehensweise hat definitiv auch in deutschen Städten Ihre Berechtigung. Der Straßenraum muss zukünftig mehr Fortbewegungsmittel und auch mehr Funktionen beherbergen können. Ob aber zusätzlich zu ebenfalls längst benötigten durchgängigen Radwegen auch noch beidseitige Flex-Zonen in meist engeren Straßenräumen untergebracht werden können, muss je nach spezifischer Situation abgeklärt werden. Um trotz ungünstiger Voraussetzungen in den Genuss des funktionalen Vorteils zu kommen, ist es in deutschen Städten sinnvoll, ein zweites Gestaltungsprinzip zur Hilfe zu nehmen, nämlich das der Hierarchisierung von Modi. Wenn man nicht versucht, alle Modi in einen Querschnitt anzuordnen, sondern diese statt dessen in unterschiedlich kategorisierten Straßen zuweist, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass Raum für flexible Nutzungen verfügbar wird.

Für weitere Fragen, stehe ich gerne zur Verfügung!

Und hier noch einige Beispiele des öffentlichen Raums in Seattle:

Fotos: ©cityinmotion